Okt 27 2015

„Die Weltordnung zerfällt“

Veröffentlicht von um 10:01 unter Pressespiegel

vom 26.10.2015

Diplomat Wolfgang Ischinger stellt beim Bürgerempfang der Kreis-CDU den Deutschen und der EU kein gutes Zeugnis aus

Die Krisen werden weiter anhalten, prophezeit Wolfgang Ischinger. Schnelle Lösungen sieht er nicht. Zum Bürgerempfang der Kreis-CDU am Sonntag hat der weit gereiste Diplomat nach seinem Bekunden „keine positiven Nachrichten“ mitgebracht.“

Der 69-jährige Schwabe Wolfgang Ischinger ist einer der deutschen Diplomaten schlechthin. Seit 40 Jahren sammelt er Erfahrungen in der Weltpolitik. Mit der Wiedervereinigung 1989 wurde Ischinger die diplomatische Allzweckwaffe der Bundesregierung – egal, welche Parteien diese anführen. Nach seinem Auswärtigen Dienst übernahm Ischinger 2008 den Vorsitz der Münchner Sicherheitskonferenz und kann seither als Gastgeber die Weltpolitiker einladen, die ihm zur Lösung eines aktuellen Konflikts als nötig erscheinen.

Damit ist er zweifellos ein intimer Kenner der globalen politischen Lage, die mehr und mehr die Menschen verunsichert. Sie kamen denn auch zahlreich am Sonntagvormittag in die Glockenkelter in Stetten, um beim Bürgerempfang der Kreis-CDU aus erster Hand zu erfahren, was in Syrien tatsächlich los ist.

Die Machtverhältnisse verändern sich rasant

Die Deutschen interessieren sich nach vielen Jahren Abstinenz wieder für die Außenpolitik. Ischinger stellt es so dar: Nach der Wiedervereinigung wollten die Deutschen nichts mehr wissen; Geschichte war für sie mit der Auflösung der DDR abgeschlossen. Von nun an wollten die Deutschen ihre Ruhe haben. Konflikte – von denen auf dem Balkan einmal abgesehen – wurden in dieser Zeit als sehr weit weg empfunden. In den Nachrichten konnten die Bürger diese einfach ignorieren. Auf den Alltag der Deutschen hatten Berichte über kriegerische Auseinandersetzungen irgendwo auf der Welt scheinbar keinen Einfluss. Doch seit einem Jahr werden die Folgen bereits länger andauernder Bürgerkriege und Vertreibung plötzlich konkret sichtbar: Flüchtlinge kommen zu Tausenden nach Europa. Warum ist das so, und warum gerade jetzt?

Wolfgang Ischingers erschreckende Erkenntnis lautet: „Die Weltordnung zerfällt“. Er nennt dafür drei Ursachen: Derzeit stelle er eine „rasante Machtverschiebung“ fest. Die USA seien es müde geworden, als Weltpolizei unterwegs zu sein. Die Bilanz der vergangenen Einsätze sei ernüchternd ausgefallen. Momentan seien die Amerikaner mit sich selbst beschäftigt. In das Vakuum stoße nun China oder auch Russland. Die Europäer wiederum seien sich zu uneinig, um einen Teil des Vakuums mit ihren Interessen zu füllen. „Europa“, so stellt er fest, „hat einen gewaltigen Minderwertigkeitskomplex.“

Zweite Ursache ist für den Diplomaten, dass der Nationalstaat seine Bedeutung und Funktion verliert. Politiker seien nicht bereit, dies gegenüber dem Bürger offen zuzugeben, obwohl diese die Veränderungen spürten. Ein Staat könne allein keine Aufgaben mehr stemmen, dies gelinge nur in einem Verbund mit anderen Staaten. Das sei nicht bloß bei Konfliktlösungen so, sondern auch in der Umwelt- und Klimapolitik. Auch an dieser Stelle plädiert Ischinger für eine Stärkung der EU. Ein weiteres Indiz, warum sich das herkömmliche Bild einesNationalstaats auflöst, sind für ihn die Art der Konflikte: Diese würden nicht mehr zwischen Nationen ausgetragen, sondern fänden innerhalb eines Landes statt. Und er nennt neben Syrien zur Stützung seiner These zahlreiche weitere Länder, in denen Bürgerkrieg herrscht. Das ist für ihn die dritte Ursache für die Welt im Umbruch.

Den Ausbruch des Terrors in Syrien vor viereinhalb Jahren hätten die Deutschen schlicht ignoriert. Deswegen trügen sie Mitschuld an den Folgen. Er stützt die Politik der Bundeskanzlerin, Syriens benachbarte Staaten dabei finanziell zu unterstützen, um Flüchtlinge dort gut unterzubringen. Er begrüßt das Zugehen der Bundesregierung auf die Türkei. Im Übrigen baut er auf Diplomatie: Ischinger schlägt eine Friedenskonferenz für Syrien vor. Solche Verhandlungen, in denen sich die Kontrahenten gegenübersitzen, bringen nach seinen Erfahrungen die meisten Fortschritte bei der Suche nach einer Lösung.

Biografie Ischinger
Er wurde 1946 in Beuren (Landkreis Esslingen) geboren.
Von 1982 bis 1990 arbeitete er für Hans-Dietrich Genscher.
Von 1993 bis 1998 war er in leitender Funktion im Auswärtigen Amt.
Von 1998 bis 2001 war er unter Bundesaußenminister Joschka Fischer Beamteter Staatssekretär.
Von 2001 bis 2006 war er Botschafter in den USA und anschließend bis 2008 im Vereinigten Königreich.

Quelle: Waiblinger Kreiszeitung vom 26.10.2015 / Text: Uwe Roth

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